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Wetzikon
02.10.2025

«Menschen fördern, aber nicht überfordern»

Demenzexperte, Pfleger, Ethiker und Autor Michael Schmieder aus Wetzikon.
Demenzexperte, Pfleger, Ethiker und Autor Michael Schmieder aus Wetzikon. Bild: zvg
Der Demenzexperte, Ethiker und Autor Michael Schmieder aus Wetzikon hat die Betreuung von Menschen mit Demenz in der Sonnweid entscheidend mitgeprägt. Im Gespräch mit der Wetziker Post erzählt er von Erfahrungen aus seiner Kindheit, im Beruf und von seinem heutigen Engagement.

Wo bist du aufgewachsen und was hast du in deiner Kindheit und Jugend erlebt?

Michael Schmieder: Am Rande des Schwarzwalds, in der Vorbergzone bei Baden-Baden – eine ländliche Umgebung mit religiös-konservativen Werten. Dort lebte ich mit meiner Mutter und meinen vier Schwestern. Mein Vater starb, als ich erst ein Jahr alt war. Dadurch war der Tod schon sehr früh ein Teil unseres Alltags. Wir lernten, ihn nicht zu verdrängen, sondern zu akzeptieren.

Diese Akzeptanz wurde später in meinem Berufsleben zu einer wichtigen Gabe. Besonders an der Jugendarbeit und am Fussball fand ich früh Freude. Nach der Schulzeit legte meine Mutter grossen Wert darauf, dass ihre Kinder eine solide Grundausbildung erhielten. Für mich führte der Weg aber zunächst ans Gymnasium in Bühl. Anschliessend besuchte ich zwei Semester lang ein Bauingenieurstudium, um zu merken, dass das nicht meine Welt war.

Wie ging es weiter?

Es folgte der Zivildienst, den ich beim Roten Kreuz als Rettungssanitäter absolvierte, und danach die Ausbildung zum Krankenpfleger. Schon damals war ich medizinisch sehr interessiert und verbesserte meine fachlichen, sozialen und menschlichen Fähigkeiten.

Mich faszinierte immer der Mensch in Extremsituationen. Wenn jemand krank ist, legt er oft jede Fassade ab und eine besondere Ehrlichkeit tritt hervor. Menschen ausserhalb ihrer Komfortzone zu begleiten, war interessant und herausfordernd zugleich.

Ab 1980 war ich am Universitätsspital Zürich in der Chirurgie tätig – Einsätze auf der Verbrennungsintensiv- und der Notfallstation prägten fortan meinen Alltag. Schon bald begleitete ich einen befreundeten Arzt in den Süden der Krisenregion Tschad, um in einem Missionsspital mitzuhelfen. Wir haben die heftigen politischen Umbrüche hautnah miterlebt – eine Zeit voller eindrücklicher Erlebnisse, z. B. wurde vor jeder Operation gemeinsam gebetet, ehe wir mit den vorhandenen, oft sehr begrenzten medizinischen Möglichkeiten versuchten, die Patienten zu retten. Die Bedingungen unterschieden sich stark von den westlichen Standards der Medizin. Und doch war es gerade diese Einfachheit, die mich tief beeindruckt hat.

Wann kamst du ins Zürcher Oberland?

Im Herbst 1981 begann ich am Triemlispital meine Zusatzausbildung zum Notfallpfleger und lernte zu dieser Zeit auch meine spätere erste Ehefrau kennen. Gemeinsam zogen wir ins Zürcher Oberland, wo wir bald eine Familie gründeten. Heute bin ich stolzer Vater von drei wunderbaren Kindern, die alle ihren eigenen Weg gehen. Mit ihnen und auch mit meinen Enkeln verbindet mich bis heute ein enger Kontakt – dafür bin ich sehr dankbar.

«Unsere Philosophie war klar: den Menschen wieder Sinn in ihrem Leben zu geben – sie zu fördern, aber nicht zu überfordern.»
Michael Schmieder

Wie ist es zu deiner Arbeit bei der Sonnweid gekommen?

1984 trat ich eine Stelle als Krankenpfleger im GZO Wetzikon an, doch ich spürte, dass ich eine leitende Funktion übernehmen wollte. Die entscheidende Wende kam auf unerwartete Weise: Während einer Wanderung lernte ich den damaligen Heimarzt der Sonnweid, Jürg Reichel, kennen. Diese Begegnung öffnete mir eine neue Tür und 1985 begann meine Zeit bei der Sonnweid.

Die Sonnweid war damals eine Institution für chronisch psychiatrisch kranke Frauen, die kaum anders untergebracht werden konnten. Psychiatrische Krankheiten aller Art trafen hier zusammen, die Sonnweid war bereits eine geschlossene Einrichtung.

Bei meiner Übernahme waren erste Frauen mit schweren demenziellen Erkrankungen stationär aufgenommen. Ich wusste, wie schwierig es war, für Menschen mit Demenz geeignete Plätze zu finden. Es entstand die Idee, die Sonnweid gezielt zu einem Spezialheim für Menschen mit Demenz zu entwickeln – eine Vision, die den Grundstein für die zukünftige Ausrichtung legte. Bereits zwei Jahre später konnten wir die erste Wohngruppe für Menschen mit Demenz eröffnen.

Für die unterschiedlichen Stadien dieser Erkrankung entwickelten wir gezielt differenzierte Wohn- und Betreuungskonzepte. Unsere Philosophie war klar: den Menschen wieder Sinn in ihrem Dasein zu geben – sie zu fördern, aber nicht zu überfordern.

«Das Chaos der Demenz ist enorm, und unsere Aufgabe bestand darin, Strukturen zu entwickeln, die es den Betroffenen ermöglichen, in diesem Chaos zu leben.»
Michael Schmieder

Was bedeutete dieser Ansatz?

Dazu gehörte auch eine bedürfnisorientierte Architektur. Wir waren überzeugt, dass sich ein Mensch nur dann wertvoll fühlt, wenn er in einer wertvollen Umgebung lebt – mit schönen Materialien, Farben und hochwertiger Möblierung. Wir haben einen Ort geschaffen, wo sich Menschen wohlfühlen können.

Das Chaos der Demenz ist enorm, und unsere Aufgabe bestand darin, Strukturen zu entwickeln, die es den Betroffenen ermöglichen, in diesem Chaos zu leben. Dieser neuartige Ansatz fand nicht nur in der Fachwelt Anklang, sondern weckte auch grosses Interesse in der Öffentlichkeit – mit der  neugegründeten Abteilung «Campus» boten wir Seminare an und erstellten wegweisendes Schulungsmaterial, das im gesamten deutschsprachigen Raum Beachtung fand und unsere Werte nach aussen trug. Menschen aus aller Welt kamen zu uns und liessen sich von unserer Arbeit inspirieren.

2015 übergab ich die Leitung an Petra Knechtli und meine jetzige Frau Monika Schmieder. Als Delegierter des Verwaltungsrats blieb ich eng mit der Sonnweid verbunden. Im Januar 2021 beendeten wir unser Engagement in der Sonnweid und haben auch keinen Kontakt mehr zur Institution. Welche Werte die heutigen Eigentümer leben, kann ich nicht sagen.

Was machst du heute?

Heute bin ich im Vorstand von demenzworld.com tätig und bringe dort mein Wissen und meine Erfahrung ein. Auch widme ich meine Zeit sinnvollen Tätigkeiten wie der freiwilligen Arbeit in der katholischen Kirche, wo ich als Koch beim Mittagstisch tätig bin.

Was wünschst du dir für Wetzikon?

Mehr Toleranz zwischen den politischen Lagern. Die Welt ist nur so bunt, wie wir sie machen.

Andreas Wolfensberger