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02.07.2024
02.07.2024 06:21 Uhr

Sind Gemeindeversammlungen noch zeitgemäss?

Hand hoch – jede Stimme zählt.
Hand hoch – jede Stimme zählt. Bild: Adobe Stock
Die Zahl der Anwesenden an Gemeindeversammlungen ist gering. Gerade einmal um die 2 Prozent der Stimmberechtigten entscheiden über wichtige kommunale Vorlagen. Ist diese Form noch zeitgemäss?

Hand aufs Herz: Wann warst du zuletzt an einer Gemeindeversammlung? Um es gleich vorwegzunehmen: Aus beruflichen Gründen nehme ich immer wieder an Gemeindeversammlungen teil, als Stimmbürgerin habe ich von meinem Stimmrecht aber erst wenige Male Gebrauch gemacht. Während ich kaum ein Stimmcouvert für kommunale, kantonale oder nationale Abstimmungen auslasse, schaffe ich es kaum je zu einer Versammlung in meiner Wohngemeinde. Und damit gehöre ich offensichtlich zur grossen Mehrheit. Die Zahl der anwesenden Stimmberechtigten beträgt jeweils um die 2 Prozent. 98 Prozent also bleiben den Versammlungen fern. Warum ist das so?

Keine Zeit, kein Interesse

Hört man sich im privaten Umfeld um, bekommt man oft Gründe zu hören wie «Ich habe keine Zeit», «Was interessieren mich diese langweiligen Themen» oder «Ich verstehe gar nicht, worum es da geht». Wiederum andere sagen: «Was bringt schon meine einzelne Stimme».

Dass gerade diese eine Stimme das Zünglein an der Waage sein bzw. über ein Ja oder Nein entscheiden kann, wird nirgends so deutlich wie an einer Gemeindeversammlung. Gerade erst entschieden 8 Stimmen in der Gemeinde Wald ZH über ein Nein zu einer eingereichten Bürger-Initiative. Und in Gossau führte neulich sogar nur 1 einzige Stimme mehr dazu, dass über ein Geschäft an der Urne und nicht an der schwach besetzten Gemeindeversammlung entschieden wird. Mehr direkte Demokratie geht nicht.

Bevölkerung in der Pflicht

Wo sind die sonst so rede- und meinungsfreudigen Menschen? Jene, die sich im Vorfeld z. B. über die sozialen Medien intensiv darüber auslassen, was die Gemeinde oder der Staat alles falsch macht, oder im Nachgang am Stammtisch über Entscheidungen an der Gemeindeversammlung monieren?

Würden sie alle von ihrem Stimmrecht in ihrer Gemeinde Gebrauch machen, würden wohl viele Geschäfte eine ganz andere, vielleicht bessere, Wendung nehmen.

Hinter vorgehaltener Hand oder hinter Bildschirmen versteckt seine Meinung zu äussern, ist das eine. Seine Standpunkte vor versammelter Gemeinde vorzutragen oder seine Hand offen zu erheben, das andere. Das eine ist leicht, das andere braucht Mut.

Nein. Es ist nicht jeder Manns oder Fraus Sache, sich sprichwörtlich vor die versammelte Gemeinde zu stellen. In Gossau beispielsweise muss man sich noch dazu in einem Gotteshaus (Ref. Kirche) an den Taufstein (!) stellen, mit dem Gemeinderat und dem riesigen Kruzifix im Rücken. Ja, es gibt wahrlich Vergnüglicheres im Leben.

Vor allem aber braucht es die echte, vertiefte Auseinandersetzung mit einem Thema. Dazu sind 98 Prozent der Stimmberechtigten offenbar nicht mehr bereit.

Gemeinden in der Pflicht

Die schwindende Zahl der Teilnehmenden macht auch den Gemeinderäten Sorge. Mit teils kreativen Ansätzen, z. B. mit einer offerierten Wurst vom Grill vor der Versammlung, versucht man die Bürgerinnen und Bürger zur Versammlung zu locken.

Tatsache aber ist: Die Gemeinden erreichen mit ihrer Kommunikation die Bürgerinnen und Bürger längst nicht mehr. Und so manches Geschäft ginge ohne die Medien und ihre Berichterstattung im Vorfeld und Nachgang wohl komplett unter.

Die steifen Flugblätter, die jeweils vor den Versammlungen als Pflichtübung in die Haushalte flattern oder digital auf den Gemeinde-Websites auf Klicks warten, motiviert heutzutage kaum noch jemanden, sich einen wertvollen freien Abend Zeit für das Gemeindeleben zu nehmen. Dazu kommt: Die in «Beamtendeutsch» verfassten Texte lesen sich in etwa so spannend wie die Packungsbeilage eines rezeptpflichtigen Medikamentes (bei dem einem ob der möglichen Nebenwirkungen schon vor der Einnahme übel wird). Und wer der deutschen Sprache vielleicht nicht ganz so mächtig ist, versteht nur Bahnhof.

Böse Zungen behaupten, dass es dem Gemeinderat bei gewissen Geschäften sogar ganz recht sein mag, wenn nur die kleine treue (Wähler)Gefolgschaft an der Versammlung erscheint, die den Empfehlungen des Rats meist bedingungslos folgt. Die es als Privileg anschaut, dem Gemeindepräsidenten oder der Gemeindepräsidentin die Hände zu schütteln.

Dialog statt Monolog

In der heutigen Zeit, mit den tollen Möglichkeiten an digitalen und gedruckten Medien, sollte es möglich sein, die Bevölkerung besser zu erreichen. Dazu braucht es aber den klaren Willen und die Bereitschaft der Behördenvertreterinnen und Behördenvertreter, neue Wege zu gehen und aus den ausgetretenen Pfaden herauszutreten. Es braucht den Willen, den Bürgerinnen und Bürgern auf Augenhöhe zu begegnen statt sich hinter Paragrafen zu verstecken. Ihnen auf einfache, sympathische und verständliche Weise und vor allem in ihren bevorzugten Kanälen zu vermitteln, worum es bei einem Geschäft geht. Warum es wichtig ist, am Diskurs teilzunehmen. Warum es ein Privileg ist, die direkte Demokratie zu leben. Warum es ein Erlebnis ist, diese Tradition mitzuverfolgen. Warum es hilfreich und wichtig ist, direkt und ungefiltert andere Meinungen und Standpunkte zu hören. Jede Stimme zählt. Jede Stimme ist wichtig.

Das 1 x 1 der Gemeindeversammlung

In einer losen Folge werden wir die Aspekte der Gemeindeversammlung, ihre Vorteile und Unterschiede gegenüber einer Urnenabstimmung, Möglichkeiten und Rechte der Stimmbürger sowie einige Besonderheiten vorstellen. Wiederkommen lohnt sich. Die Beiträge findest du im Themen-Dossier Wahlen & Abstimmungen.

Gewusst?

In unserer Online-Agenda findest du alle Daten der Gemeindeversammlungen in deiner Gemeinde. Die Termine kannst du mit nur einem Klick direkt in deiner digitalen Agenda speichern. 

Barbara Tudor